Der Aufsichtsrat
Ethos oder Pathos?

Ethos oder Pathos?

Dr. Sebastian Biedenkopf

Dr. Sebastian Biedenkopf
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Das Thema Ethik ist en vogue. Technologieunternehmen und auch solche, die es noch werden wollen, geben sich Ethikkodizes. Die Bundesregierung hat in jüngerer Zeit gleich zwei Ethikkommissionen geschaffen: zum autonomen Fahren und zu „Daten“. Warum diese eifrige Befassung mit ethischen Fragen? Ein Mangel an Gesetzen und Regeln kann nicht der Grund sein. Noch nie unterlag unser Handeln einer so dichten staatlichen Regulierung. Und noch nie gab es in Unternehmen ein so breites Netz an selbstgesetzten Regeln, deren Einhaltung mit einem rekordverdächtigen internen Aufwand laufend überprüft wird.

Wesentlicher Grund sind die gestiegene Geschwindigkeit technischer Entwicklungen und die dadurch ausgelösten Paradigmenwechsel. Die Gesellschaft spürt, dass sich fundamentale Veränderungen vollziehen und entscheidende Weichen gestellt werden müssten – auch und insbesondere durch den Gesetzgeber. Doch die Geschwindigkeit der Veränderung, kombiniert mit eingeschränktem oder sogar fehlendem Verständnis der Technologien und ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen, erschwert die Schaffung allgemein verbindlicher gesetzlicher Regeln. Diskussionen über Ethik können helfen, dieses Vakuum zu füllen. Dies reicht allerdings bei Weitem nicht aus. Um die mit „Big Data“ und Künstlicher Intelligenz einhergehenden Risiken ausreichend mitigieren zu können, benötigen Unternehmen gesetzliche und damit verbindliche Regeln, nicht ethische.

Angesichts des Zögerns des Gesetzgebers kann es durchaus sinnvoll sein, im Unternehmen ethische Leitplanken zu entwickeln und so auch einen Beitrag zu der sich in vollem Gange befindlichen gesellschaftlichen Diskussion zu leisten. Notwendig ist hierfür eine breite Befassung mit den für das Unternehmen relevanten Fragen. Dabei braucht es Geduld. Ein von oben verordneter Kodex wird die Belegschaft nur schwer erreichen, was die nachhaltige Integration der neu definierten Werte gefährdet.

In jedem Fall sollte man sich davor hüten, einen Ethikkodex in erster Linie als Marketing-Instrument zu betrachten und sich von der Begeisterung hierfür mitreißen zu lassen. Denn Ethikkodizes sind nicht nur ein ungeeignetes Instrument des Risikomanagements, sondern können Risiken für das Unternehmen sogar verstärken:

  • Kommuniziert das Unternehmen die selbst gesetzten Ethikstandards, so versteht die Gesellschaft die aufgestellten Postulate als Versprechen. Werden die Standards später wieder herabgesetzt oder nicht eingehalten, wirkt dies wie ein gebrochenes Versprechen – die Folgen für die Reputation des Unternehmens sind gravierend. Es mag dann schlechter dastehen als Wettbewerber, die erst gar keinen entsprechenden moralischen Anspruch erhoben haben.

  • Auch die unternehmensinternen Nebenwirkungen können gravierend sein. Nimmt die Belegschaft ein Auseinanderfallen von moralischem Anspruch der Unternehmensführung und der Wirklichkeit wahr, kommt es zu einem erheblichen Vertrauens- und Motivationsverlust. Schlimmstenfalls erodiert die Regeltreue, wodurch sich das Risiko von Verletzungen gesetzlicher Regeln durch Mitarbeiter erhöht.

  • Angesichts der inflationären Verwendung des Ethiklabels entsteht der Eindruck, dass „nur dort Ethik drin ist, wo auch Ethik draufsteht“. Der bestehende und unverändert wesentliche Wertekompass kann dadurch verwässert werden, so z.B. das Konzept des Ehrbaren Kaufmanns.

  • Das größte Risiko besteht in der möglichen Mutation selbstgesetzter Ethikstandards zu verbindlichen, sanktionierten Regeln („Creeping Law“). Was gestern löbliche Eigeninitiative war, kann morgen schon Grundlage für die Zuordnung rechtlicher Verantwortung sein, mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Meist kommt diese Erkenntnis überraschend, typischerweise in Verbindung mit einem Großschaden, dem „Shitstorm“ oder als Folge sich rasch wandelnder gesellschaftlicher Ansprüche.

Keine Frage, Ethikdiskussionen sind wichtig und daraus entwickelte Leitplanken können auch beim Fehlen notwendiger gesetzlicher Regelungen Orientierung geben. Aber Ethikstandards sind nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen zu haben. Wird dem Aufsichtsrat ein Ethikkodex präsentiert, sollte er genau darauf achten, ob dieser von Ethos oder von Pathos getragen wird. Und er sollte sich erkundigen, ob die Geschäftsführung sich der Mühe unterzogen hat, einen Beipackzettel zu erstellen.